Die Diktatur der Zuversichtler
Wäre Deutschland ein lebender Organismus, litte er an einem Schütteltrauma. Denn seit geraumer Zeit wird
unser Land in kurzen Abständen gepackt und gerüttelt, dass ihm schwindlig werden könnte. Verantwortlich
dafür ist die Kaste der Zuversichtler. Es sind zumeist Untemehmer, junge Karrierewissenschaftler, so genannte
High Potentials, Zeitgeist-Philosophen, prominente Joumalisten, Politiker, aber auch Künstler und Schriftsteller,
mitunter sogar Sportler. Ihre Analysen und Aufrufe mahnen die Deutschen, doch endlich mal weniger zu
jammern und mit Zuversicht nach vorne zu blicken. Zum Wechsel auf das Jahr 2006 erreichte der Ausstoß an
Aufmunterungsbeschwörungen Rekordwerte. Anzeigen, Leitartikel, Essays, Bücher geißelten die Jammer-
mentalität im satten, verwöhnten Deutschland.
Blickt man mit den Augen der Zuversichtler auf Deutschland, sieht man ein gedemütigtes Land, durch das
Karawanen verhärmter Menschen streifen, die geizig auf jeden Cent starren, die Fortpflanzung verweigem,
von der Zukunft nur Schlechtes erwarten und sich wie kleine Kinder an Vater Staat klammern, auf dass er ihnen
Schutz, Obdach und Fürsorge angedeihen lasse. Die Zuversichtler dagegen sehen sich als Elite. Sie glühen
vor Bedeutungsschwere und ziehen messianisch gegen diese trostlose Melange aus kinderlosen
Fortschrittsverweigerern, verzagten Miesmachern und ängstlichen Bestandswahrem zu Felde. Sie sehen sich
bestätigt durch tägliche Umfragen, nach denen die Deutschen pessimistisch und traurig in die Zukunft blicken.
Wunderbar, könnte man sagen – endlich tut sich etwas in unserem Land, endlich erkennt jemand die Ursachen
der "deutschen Krankheit". Doch je drohender die Zuversichtler ihre Mementos in die Öffentlichkeit schleudem,
desto größer wird die Verdrossenheit bei den Adressaten, also "dem Volk". Denn wenn man genauer
hinschaut, will man die Jammerer nicht so recht entdecken.
Gewiss, es gibt diese Umfragen, in denen die Deutschen wenig Optimismus zeigen. Aber ist jeder, der an
einem umfassenden Wirtschaftsaufschwung, einer Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt, einer Reform der
Sozialsysteme zweifelt, ein Jammerlappen? Ja, schreien die Zuversichtler und träumen vom "Ruck" und von
der "Runderneuerung" des Landes, von schnellen und radikalen Lösungen'
Dabei verkennen sie nicht nur das Wesen der Demokratie, sondern bleiben auch seltsam unkonkret. Was soll
sich denn ändern, und für wen? Für die Mahner wohl am allerwenigsten, könnte man polemisch formulieren.
Ihre Schreibtische würden wohl wie Inseln im Meer der Umwälzungen stehen bleiben.
So haben die Berufsaufrüttler leicht reden von amerikanischer Flexibilität und dem Geist des Liberalismus. Die
wenigsten von ihnen waren wohl jemals in Gefahr, diese Flexibilität aufzubringen, um sich von Job zu Job
oder von Auftrag zu Auftrag hangeln zu müssen. Zugegeben: Es sind Zeitgenossen, die viel erreicht haben
im Leben. Sie haben kreativ und hart gearbeitet, haben sich durchgesetzt und erwarten dies auch von ihren
Mitmenschen.
Nur eines unterscheidet sie von den vermeintlichen Jammerem: Sie mussten und müssen nicht erwarten,
dass ihre Jobs von heute auf morgen abgewickelt oder in minderbezahlte Gesellschaften ausgegliedert
werden. Sie müssen nicht befürchten, auf der sozialen Skala nach unten durchgereicht zu werden. Sie hatten
und haben zumeist eine beruhigende Perspektive vor Augen, ihre Institute, Büros und
Abgeordnetenschreibtische werden nicht von heute auf morgen geräumt. Ihnen fehlt jene traumatische
Erfahrung in der Arbeitsbiografie, nicht mehr gebraucht und abgewickelt zu werden. Sie schwadronieren von
der Flexibilität und übersehen, dass ein Mann oder eine Frau im Alter von 50 Jahren neben aller nötigen
Flexibilität auch ein Stück Sicherheit zum Leben braucht. Vor allem, wenn sie eine Familie ernähren müssen.
Die Zuversichtler dagegen blicken von einer gewissen Höhe auf unsere Gesellschaft. Diese Augenhöhe
befreit den Geist. Doch sie befreit den Analytiker nicht von der Pflicht, genau hinzuschauen und
Allgemeinplätze zu vermeiden. Die Menschen, die der Jammerei beschuldigt werden - sie jammem
meistens nicht, sie machen sich Sorgen. Das ist ein Unterschied. Denn diese Sorgen haben einen realen
Hintergrund.
Es ist die Sorge, krank zu werden und einem medizinischen System anheim zu fallen, das den Patienten
immer mehr als Kostenfaktor sieht. Die Sorge, trotz harter und erfolgreicher Arbeit auf der Strecke zu bleiben,
weil die Gewinnerwartungen des Arbeitgebers nicht erfüllt werden. Die Angst vor einem Wirtschaftssystem,
dem die Profitmaximierung alles gilt und die Menschen nichts. Die Angst, zum Opfer eines globalisierten
Kapitalismus zu werden.
Diese Ängste und Sorgen sind weit verbreitet in unserer Gesellschaft - doch das bedeutet nicht, dass wir zu
einem Volk der Jammerer geworden sind. Vielmehr nimmt man ein seltsames Paradox wahr: Diejenigen, die
ständig zum Ende des Jammerns aufrufen, tragen damit kräftig zur schlechten Stimmung bei. Ihr scharfer Blick
übersieht die große Zahl von Untemehmern, Beschäftigten, sozial engagierten Bürgern, die tagtäglich das
Gerede von der überhand nehmenden Miesmacherei Lügen strafen.
Diese Menschen meistern ihr Leben, ohne zu jammern, sie beantworten die Herausforderungen unsrer Zeit
mit Tatkraft, Energie und sozialem Bewusstsein - und nicht mit intellektuell verbrämten Sprüchen. Das gilt auch
für jene, die nicht vom Schicksal begünstigt sind, die keine Hochschulausbildung, keinen Job, keine auf Jahre
gesicherte Berufsperspektive haben und dennoch nicht aufgeben. Die sich als Alleinerziehende durch den
Alltag wursteln und dennoch Zuwendung für ihre Kinder übrig haben. Die sich von Job zu Job hangeln und
dennoch nicht den Mut verlieren.
Schaut euch mit offenen Augen in Deutschland um, möchte man den Zuversichtlem zurufen. Hört auf mit dem
Jammern über das Jammern und lasst den Menschen ihre Ängste, denn sie gehören zum Leben. Und
kommt uns bitte nicht mit neuen Zuversichtsaufforderungen. Wenigstens bis zur Jahreswende. Martin Gerstner