Nachdem ich im Sommer einige Trainerseminare zwecks Lizenzverlängerung besucht habe, scheint sich für den Kinderhandball wieder mal eine Diskussion um das Prellverbot zu entwickeln. Wie sehr ihr das, ist die Meinung von Renate Schubert ("Mutter des Kinderhandballs" in Deutschland laut Leukefeld Handball | Team > Renate Schubert | Dago Leukefeld, Handball Trainer) noch aktuell ? Habe auch einmal einen Artikel eines Trainerkollegen mit seiner Meinung angehängt...
Ins Abseits gedribbelt
(Matthias Kornes – Matthias Kornes - http://www.ballgewinn.de</a>) Es ist derzeit die Gretchenfrage im deutschen Kinderhandball. Dürfen sie es oder dürfen sie es nicht – dribbeln. In Württemberg dürfen sie es nicht, in Niedersachsen hingegen schon. Und im Kreis Bielefeld (HV Westfalen), wo Renate Schubert, Kinderhandball-Expertin, das Sagen hat, da dürfen sie es nicht. Prellverbote für die E-Jugend sind auf dem Vormarsch.
Anlässlich des 13. Hildesheimer Trainerseminars präsentierte Schubert ihre Vorstellung von einem kindgerechten Spielsystem, umgesetzt im Handballkreis Bielefeld/Herford: 6+1 auf dem ganzen Spielfeld – mit Prellverbot. Die Begründung lieferte Renate Schubert auf eher emotionale Weise und präsentierte den anwesenden Trainern und Trainerinnen einen Zeitungsartikel aus dem Westfalen Blatt, Titel: "52:2 – TSG spielt Katz' und Maus". Solche Ergebnisse könnten ja wohl nicht gut für alle Beteiligten sein, suggerierte Schubert – und erntete erst einmal Kopfnicken der meisten Zuhörer. Nachdenklich macht allerdings das genaue Studium des Artikels. "Nach dem 9:0 (3.) nahm TSG-Trainer Maximilian Kipp seine besten Spieler vom Feld und ließ sein Team zusätzlich in Unterzahl agieren. Das führte zu keinem Bruch."
Da nimmt also der Coach seine "besten Spieler" vom Feld – und dann werfen auch die Spieler aus der zweiten Reihe munter weiter Tore gegen den offenbar völlig unterlegen Gegner – der zudem noch in Überzahl spielen konnte. Mehr
kann dann auch der Kollege Kipp nicht tun, der anscheinend eine richtig gute Mannschaft hat – und mit der HSG Spradow einen Gegner, der nicht in die Liga der TSG gehört. Nun könnte man sicher über die Art und Weise, wie in der E-Jugend Ligen zusammengestellt werden, sinnieren, aber dieses Ereignis als Begründung für ein Prellverbot heran zu ziehen heißt nur eines – den Wettbewerb zwischen ungleichen Gegnern zulasten der Fortgeschrittenen und zugunsten der Anfänger / Unterlegenen künstlich zu steuern. Das dies gewollt ist, teilt der Handballkreis selbst mit: "Schließlich sollen auch insbesondere leistungsschwächere Mannschaften von den Regeländerungen profitieren und nicht zusätzliche nicht lösbare Situationen für unerfahrenere Spieler/innen dadurch entstehen", heißt es auf der Webseite.
Mit 17:1 Stimmen hat der Handballkreis Bielefeld/Herford letzten Endes die Reform angenommen. Die übrigens auch die Durchführung von Spielfesten für die E-Jugend beinhaltet, bei denen koordinative und motorische Tests abgefragt werden und bewertet werden – das Ergebnis fließt in die Ligawertung ein. Interessanterweise ist das Prellen so ganz nicht gestrichen für die E-Jugend in Bielefeld/Herford. "Ein Siebenmeter ist – gerade bei Mädchen – in dieser Altersstufe eher eine Bestrafung für die Werfer", sagte Renate Schubert in Hildesheim, "deshalb prellen die Kinder anstelle eines stehend ausgeführten Siebenmeters vom Mittelkreis in den Neunmeterraum, um von dort zu werfen, das ist für sie einfacher." Ein methodischer Fauxpas.
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Kinder erkennen durchaus schnell, was erfolgversprechend ist und was nicht – sie lernen hier gerade implizit, dass es besser ist, nah am Ball zu sein, als weiter weg davon. Wenn aber dies der "beste" Weg zum Ball ist, dann wird sich zwangsläufig die Mannschaft des Ballbesitzers um diesem herum gruppieren, um dem Ballbesitzer zu helfen. Im Sinne der Betonung des impliziten Lernens, das nach gängiger Ansicht der Sportwissenschaft in der Grundlagenausbildung dem expliziten Lernen voranzustellen ist, ein völlig verkehrtes Signal. So auch in der Praxis zu beobachten, das Fangen, Festhalten und Suchen nach einer Abspielposition ließ jedweden Spielfluss und jede Dynamik erlahmen. Mehr noch, in der Not und aufgrund der vielen Spieler um ihn herum, nutzte manch kleiner Handballer zwangsläufig den freien Raum über seinen Mitspielern und griff zur Variante "Bogenlampe", dem Notwurf über die Gegen- und Mitspieler hinweg, in Richtung eines möglichen Empfängers.
Ein Freilaufen in einen freien Raum, vielleicht mehr als die "sichere" Passdistanz vom Ballbesitzer entfernt, wird da schnell sinnlos. Wenn der Ballbesitzer den Ball prellend in Richtung des sich weg vom Ball freilaufenden Spielers transportieren könnte, sähe das ganz anders aus. Dann könnten beide gemeinsam einen Raumvorteil erlangen. Oder sich zumindest – im Prozess der Ausbildung des divergenten taktischen Denkens – für eine Option entscheiden. So aber macht es wenig Sinn, wenn – wie in Hildesheim zu beobachten – mitten im Spiel seitens der Trainerin die Korrektur kommt: "Stopp, alle stehen bleiben – ihr steht alle auf einem Haufen, aber schaut doch mal da drüben, da ist viel Platz, da musst du doch hin frei laufen." Das meterweit vom Ball entfernte "da drüben" ist für den E-Jugendlichen ohne Ball keine erstrebenswerte Position – weil die Wahrscheinlichkeit hoch ist, das er entweder den Ball gar nicht bekommt, oder wenn er doch anfliegt, er diesen nicht kontrollieren kann. Die Kinder machen das schon richtig...
Wer in Hildesheim zuschaute, bekam gleich noch eine schöne Praxisvorführung der Problematik mitgeliefert. Da riefen die kleinen Ballwerfer "Hier", "hier" – um dem armen Kerl zu helfen, der nun gerade den Ball hatte und ihn in drei Sekunden schon wieder loswerden musste. Das aber verbat dann Trainerin Renate Schubert – und übersah ganz offenbar das auch hier die Kinder das taten, was aufgrund des Spielsystems schlicht nötig war: "Helfe dem Ballführer, denn er muss den Ball loswerden", lautete die zentrale Aufgabe.
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Technik limitiert Taktik – das gilt auch für die kleinen Ballwerfer. Erst recht, wenn diese Limitierung vorgeben wird. Hat ein Spieler freien Raum vor sich, muss er ihn besetzen, nur so kann ein kleiner Handballer lernen, sich selbst einen Stellungsvorteil zu verschaffen. In Richtung des Tores, um ein Tor selbst zu erzielen oder dies einem Mitspieler zu ermöglichen; seitwärts oder rückwärts, um anspielbar zu sein oder seinem Mitspieler Platz zu machen. Dazu braucht er die Technik des Prellens. Kann er nur drei Schritte machen und muss dann (innerhalb von drei Sekunden) passen, dann kann er selbst keine Räume besetzen. Diese Entscheidung wird ihm also regeltechnisch aufoktroyiert: "Spiele ab!" Auch ein EJugendlicher muss die Möglichkeit haben, zu lernen, wie er vielfältige und variable Lösungsideen entwickeln kann, also Lösungen für taktische Probleme generieren. Und er muss lernen dürfen, die jeweils "beste" Lösungsidee auszuwählen. (1)
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Kröger und Roth (2) haben einmal grundlegende taktische Basisanforderungen in der Vermittlung eines Sportspiels wie "ins Ziel treffen", "Ball dem Ziel annähern", "Überzahl herausspielen", "Zusammenspiel", "Lücke erkennen" und "Gegnerbehinderung umgehen" unterschieden. Angesichts der räumlichen Einschränkungen durch das Prellverbot sind die letzten fünf Punkte zumindest deutlich erschwert. Ein seltsamer Ansatz also angesichts der Grundthematik, in der Grundlagenvermittlung Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, "Spielsituationen taktisch zu 'lesen' und zu verstehen" sowie "ihre Lösungen zu 'schreiben'".(3) In diesem Sinne wird hier eher zum "Legastheniker" gemacht.
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Zum Schluss ein Blick in Richtung Weltspitze: Raul Entrerrios ist sozusagen die personifizierte Horrorvision deutscher Nationalmannschaften. Der Mittelmann des FC Barcelona sowie der spanischen Nationalmannschaft zelebriert den typisch spanischen Handball – viel Kleingruppenspiel, viele Kreuzungen, ein ausgeprägtes Spiel über den Kreis. Und das alles permanent aus dem Anprellen, das Kollege Entrerrios beherrscht wie kaum ein anderer.
Und in der Bundesliga: Es ist zweifelsfrei eine der gefährlichsten Waffen des THW Kiel – Meister, Pokalsieger und Champions League Sieger: Übergang von Linksaußen Dominik Klein an den Kreis, Kreisläufer Marcus Ahlm positioniert sich zwischen Außen- und Halbverteidiger (und nutzt so das "Mismatch" gegen den meist physisch schwächeren Außen), Filip Jicha oder Momir Ilic stehen davor und warten auf den richtigen Moment, prellen an und attackieren im Spiel 2:2. Ohne perfekte Technik im Prellen eine wertlose Aktion. Auch Iker Romero zelebriert das perfekt im Zusammenspiel mit Berlins Kreisläufer Evgenij Pevnov. Warum ist diese Aktion so gefährlich? Weil ein Entrerrios, Jicha, Ilic oder Romero sowohl den klassischen Distanzwurf aus dem Prell-Anlauf beherrschen, aber eben auch das Spiel 2:2 mit prellen, Richtungs- und Handwechsel (Jichas Täuschung gegen die Hand!). Die Deckung muss also eine Lösung finden, um den Wurf zu verhindern (heraus treten), öffnet so aber eben den Raum für das Zusammenspiel mit dem Kreisspieler. Einen solchen Spielvorteil kann niemand erarbeiten, der nicht perfekt den Ball prellen kann. Merke: Alle vier im Beispiel sind – Ausländer...
Quellen:
1 Roth: Techniktraining, In: Handbuch Sportspiel
2 Kröger / Roth: Ballschule – ein ABC für Spielanfänger
3 Roth: Sportspielvermittlung, In: ebd.
Original (in voller Länge): Ins_Abseits_gedribbelt.pdf